C. Schmidt: Geschichte der Ikonen in Russland

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Titel
Gemalt für die Ewigkeit. Geschichte der Ikonen in Russland


Autor(en)
Schmidt, Christoph
Erschienen
Köln 2009: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
303 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Barbara Hallensleben

«Eigentlich setzt Ikonenforschung Kenntnis in vier Gebieten voraus: Kunstgeschichte, Kirchengeschichte, Slavistik und Geschichte. Diese vier Fächer beherrscht jedoch niemand; so schrumpft auch der Forscher unversehens zum Dilettant» (241). Der Verfasser präsentiert sich in Stil und Inhalt als ein wissenschaftlich kompetenter Dilettant. Vor der Theologie, die in der Aufzählung fehlt, hat er durchaus einen gewissen Respekt, ist doch die Ikone dort angesiedelt, «wo die Ratio endet und der Mythos beginnt» (241). Mit der bisherigen theologischen Literatur zum Thema ist er weniger zufrieden: «Bislang verführte die theologisch dominierte Sicht der Ikone ja dazu, dieses Medium statisch zu beschreiben, obschon die Ikone wie alle historischen Erscheinungen fortwährender Neuerung unterliegt» (11). Auch die Kunstgeschichte schneidet in seinem Ranking nicht gut ab: «Nicht selten springt der Kunsthistoriker herum wie ein Wellensittich, nimmt vieles in den Schnabel, gelangt aber selten zum Kern» (9). Der Verfasser, der an der Universität Köln Osteuropäische Geschichte lehrt, ist überzeugt, «dass die Ikonenforschung kaum erst begonnen hat» (243). Der Titel «Gemalt für die Ewigkeit» ist in diesem Kontext irreführend, weil er eine klassische Ikonentheologie erwarten lässt. Der Untertitel «Geschichte der Ikonen in Russland» gibt ebenfalls nicht genug von der Originalität des Inhalts zu erkennen.

Am besten lässt sich Christoph Schmidt in seinem Vorgehen wohl vergleichen mit den Gottesnarren, von denen er mit so viel Hochachtung spricht. Sie «galten der Ostkirche als Seismographen des Umschlags von Wahrheit zu Lüge und umgekehrt. Zu diesem Zweck kam ihnen das Recht zu, Konventionen zu missachten, Mächtige zu verspotten und den Verrückten zu spielen» (171). Christoph Schmidt spielt den Narren, wissenschaftlich gesprochen: den Dilettanten. Seine grosse Belesenheit, von der sein 30seitiges Literaturverzeichnis und der Anmerkungsapparat zeugen, setzt er ein, um Erwartungen zu durchbrechen und die Aufmerksamkeit umzulenken. Dazu gehört auch der streckenweise eher journalistische als akademische Stil. Einerseits zeigt sich seine Wille zur Systematisierung in den häufigen klar gegliederten Aufzählungen. Insgesamt aber entsteht etwas anderes als ein geordnetes Handbuch. Und doch wird ein Gesamtbild vermittelt, und die grossen Namen und Ereignisse der russischen Geschichte werden beim Lesen lebendig und durch das sorgfältig angelegte Namensregister auch für die wissenschaftliche Weiterarbeit erschlossen. Die Aufmerksamkeit des Verfassers liegt auf den Wechselwirkungen zwischen Geschichte und Ikonographie. So erfahren wir, dass «die Mongolenzeit mit einer deutlichen Zunahme der Marien- und Heiligentafeln» einherging (71). Wir erleben den Aufstieg Moskaus mit, zu Beginn der Mongolenzeit noch «ein Eldorado der Hinterwäldler, von Sümpfen umgeben, von Wölfen umheult, ein Nichts unter den Städten» (94). Wir lernen ikonographische Stile und Motive aus zeitgeschichtlichen Kontexten heraus zu verstehen und als «Bildkulturen» (112) zu deuten.

Besonderen Wert legt unser Hofnarr im Haus der Wissenschaften darauf, die vermeintliche Statik der Ikonographie und ihre klare Abgrenzung vom Westen zu hinterfragen: Wir stossen auf die Aufnahme der Linearperspektive in die Ikonenmalerei, wir entdecken die Verbreitung der Signatur und damit die Aufhebung der Anonymität des Malers, wir werden aufmerksam für politische Funktionalisierungen der Ikonen, wir erleben den Einfluss westlicher Maler in der Barockzeit. Diese kreative Periode endet in der Sicht des Verfassers mit der Spaltung der Altgläubigen im 17. Jahrhundert. Neben sechzehn Schwarz-Weiss-Abbildungen sind dem Buch zwölf sorgsam ausgewählte farbige Bildtafeln beigegeben, die zum Teil sehr ausführlich interpretiert werden: «Die vorliegende Studie fragt weniger nach Meisterwerken, den Zeugen einer Epoche, als nach Bruchstücken als Zeugen eines Umbruchs» (12). Sie lassen sich oft identifizieren am Wandel der «dargestellten Zeitschichten» (12) und deuten auf eine zunehmende Aktualisierung, die mit einer Historisierung der Themen einhergeht. Ikonen und zeitgenössische Texte werden bei der Interpretation in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit herangezogen.

Das Buch mündet in eine Reflexion über «Gehalt und Gestalt». Grundfragen der Ästhetischen Theorie werden im Blick auf die Ikonen neu gestellt. «Vermutlich sind Realität und Wirklichkeit nicht identisch» (213). Diese behutsam formulierte und doch so folgenreiche Wahrnehmung begründet die Sympathie des Autors für die umgekehrte Perspektive der Ikonenmalerei, die er bevorzugt «offene Perspektive» nennt. Sobald Peter der Grosse die Bilder als Aberglaube abschafft, ist «die Suche nach Ersatzmythen in Politik, Kunst oder Wissenschaft eröffnet» (227), wird die Perspektive folglich verengt.

«Offene Perspektive» – das ist es, was Christoph Schmidt in die Ikonenforschung einbringen möchte. Allen, die das zu schätzen wissen und ihren eigenen Zugang zur Ikonenwelt erweitern möchten, sei das Buch von Herzen empfohlen. Einige Formalia werfen Fragen auf: Nicht immer sind die Marginalien gut mit dem Inhalt koordiniert, vor allem nicht mit den strukturierten Aufzählungen von Ergebnissen. Die Abkürzung «tw.» für «teilweise» ist ungebräuchlich. Für Sergij von Radonezh sind zwei verschiedene Todesdaten angegeben (44: 1391, sonst 1392). Auf S. 160 wird fälschlich auf die Abbildung 13 statt 12 hingewiesen. Erstaunlich ist, dass der Verfasser den Ikonenbeschlag nicht erwähnt, der die Ikone den Reliquien annähert und die Überlegungen zur Farbgebung der Ikonen für lange Perioden wirkungsgeschichtlich relativiert. In weit grundsätzlicheren Punkten ist die Auseinandersetzung zwischen Lesern und Autor angesichts der unkonventionellen Sprache und der pointierten Urteile vorauszusehen. Aber wann hätte die Disputatio je der Wissenschaft geschadet?

Zitierweise:
Barbara Hallensleben: Rezension zu: Christoph Schmidt, Gemalt für die Ewigkeit. Geschichte der Ikonen in Russland, Köln/ Weimar/Wien, Böhlau Verlag, 2009. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 105, 2011, S. 599-600.

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